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Deutsches Schulsystem - Herausforderungen für berufstätige Eltern

Aktualisiert: 26. Sept. 2023

Artikel von Silke Fokken aus spiegel.de vom 17.07.2023


"Das Hausfrauen-Kalkül im deutschen Schulsystem

Bei den Ferien geht die Rechnung am wenigsten auf: Schulpflichtige Kinder haben in Deutschland übers Jahr verteilt drei Monate frei, und zwar allein im Sommer 30 Tage am Stück. Erwerbstätige Eltern haben in der Regel Anspruch auf sechs Wochen Urlaub. Man muss kein Mathegenie sein, um zu erkennen, dass da etwas nicht passt.

Mit größter Selbstverständlichkeit wird von der Politik jedoch angenommen, dass Eltern die Quadratur des Kreises bewältigen und die Ferienbetreuung irgendwie organisiert bekommen; ebenso wie sie übers Jahr verteilt noch unterrichtsfreie Tage wegen Fortbildungen, Streiks, Hitzefrei oder Glatteis abdecken.

Diese Lücke zwischen Urlaub und unterrichtsfrei ist das vielleicht augenfälligste Symptom eines grundlegenden Problems: Im deutschen Schulsystem wurde jahrzehntelang mit der Hausfrauenehe kalkuliert. Die Folgen sind bis heute spürbar. Das gilt nicht nur für Betreuungsnöte, sondern auch für manche Hiobsbotschaft zur Schulmisere in diesem sich dem Ende nähernden Schuljahr. Aber von vorn.


Die Erfindung der Hausfrau

Das Konzept der bürgerlichen Hausfrau sei um 1900 auf alle Schichten ausgeweitet worden, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Evke Rulffes in »Die Erfindung der Hausfrau«. Damals sei durch die wachsende Mittelschicht der Bedarf an Dienstboten gestiegen, gleichzeitig strömten gering Qualifizierte vermehrt in Fabriken. Die Folge war eine »Dienstbotenkrise«. Die Hausfrauenehe sollte dieses Problem, pardon, ausbügeln.

Während der ersten Weltwirtschaftskrise 1929 sei unbezahlte weibliche Haus- und Familienarbeit schließlich als Wirtschaftsfaktor erkannt worden. Frauen seien in eine »heimliche Dienerklasse« verwandelt worden, schreibt Rulffes unter Bezug auf den Wirtschaftswissenschaftler Kenneth Galbraith. In der Nachkriegszeit galt die Hausfrauenehe in Westdeutschland als gesellschaftliches Ideal. Ungefähr zur gleichen Zeit war ein Schulsystem maßgeblich, das auf die Verfügbarkeit von nicht oder allenfalls wenige Stunden in Teilzeit erwerbstätigen Müttern setzte: Anders als in vielen anderen Ländern endete der Unterricht in der Regel mittags.


Die deutsche Halbtagsschule

Bund und Länder sparten sich Schulkantinen sowie jede Menge Personal zur Förderung von Musik, Kunst oder Sport am Nachmittag. Man(n) ging davon aus, dass die Mutter ihr Kind, im Sinne konservativer Rollenbilder, zum Mittagessen erwartet. Danach stand Mutti für Hausaufgaben oder Hobbys parat.

Dieses Modell hat sich jahrzehntelang hartnäckig gehalten – allen Reformbestrebungen zum Trotz. Bereits 1969 beschloss die Kultusministerkonferenz den Ausbau von Ganztagsschulen. Nach 15 Jahren sollte mindestens ein Sechstel bis ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler eine solche Schule besuchen. Doch das Ziel wurde bei Weitem nicht erreicht, das gesellschaftliche Klima war offenbar nicht reif dafür.

Noch 1980 erklärte CDU-Politiker Lothar Späth, damals Ministerpräsident von Baden-Württemberg: »Den gefährlichen Tendenzen zur Ganztagsschule, die den elterlichen Einfluss entscheidend schmälert, werden wir nicht folgen.« Bis weit in die Neunzigerjahre dauerte der Unterricht an westdeutschen Grundschulen oft nur von etwa 8 bis 11 oder 12 Uhr. Eine anschließende Hortbetreuung war – ganz anders als in der DDR – eher die Ausnahme als die Regel.

Selbst im Zuge der Wiedervereinigung sollte sich daran in Westdeutschland insgesamt gesehen grundsätzlich wenig ändern. Erst 1999 führte Hamburg als einziges Bundesland zumindest die »verlässliche Grundschule«, die fünf Stunden dauerte, flächendeckend ein. Andere Bundesländer zogen nach, aber nicht alle. Ganztagsangebote nutzte noch 2002 nicht mal jedes zehnte Kind.


Der verschleppte Ganztagsausbau

In Estland, Finnland, Schweden, Frankreich oder den Niederlanden war zu diesem Zeitpunkt längst normal, dass ein Schultag sechs bis sieben Stunden dauert, in Südkorea mehr als acht Stunden. Diese Länder schnitten beim Pisa-Test, einem internationalen Leistungsvergleich für 15-Jährige, meist überdurchschnittlich ab.

In Deutschland hingegen startete der Bund erst 2003, auch geprägt vom »Pisa-Schock«, ein milliardenschweres Programm, um die Länder beim Ganztagsausbau zu unterstützen. Erklärtes Ziel der damaligen rot-grünen Koalition: mehr Chancengerechtigkeit und eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Damit nahm das Thema Fahrt auf.

Seitdem ist viel passiert, aber längst nicht überall gleich viel. Die Ganztagsbilanz fällt je nach Region extrem unterschiedlich aus. In Hamburg, Berlin, Nordrhein-Westfalen, Thüringen, Sachsen oder im Saarland hatten im Schuljahr 2020/21 fast alle Grundschulen ein Ganztagsangebot. In Bayern waren es etwa zwei Drittel, in Baden-Württemberg war es nicht mal ein Drittel.

Bundesweit stieg die Ganztagsquote erheblich: von rund 10 auf 70 Prozent. Knapp die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler von Klasse 1 bis 10 nutzen inzwischen ein solches Angebot. Doch »Ganztag« meint Verschiedenes.

Der Begriff kann einen klug konzipierten Schultag beschreiben, der bis zu neun Stunden dauert, teilweise gibt es auch ein Angebot für die Ferien. Verbreiteter ist aber ein sogenanntes Bikini-Modell: Der Vormittag mit Unterricht und die Betreuung am Nachmittag laufen weitgehend getrennt voneinander. »Ganztag« kann auch heißen: Kinder dürfen an drei Tagen pro Woche in der Schule Mittag essen und bis 14.30 Uhr bleiben, beaufsichtigt von Mini-Jobbern.


Der »Pädagogische Volkssturm«

Neben diesen strukturellen Defiziten herrscht aktuell ein drastischer Lehrermangel. Jahrzehntelang hat die Politik versäumt, der Personalnot systematisch vorzubeugen. War der nötige Druck nicht da, weil man im Zweifel (erneut) immer mal wieder auf eine stille Reserve zurückgreift? Auf die Mütter?

Als Deutschland in den Sechzigerjahren die Lehrkräfte fehlten, sollten »bereits vorgebildete Personen«, vor allem Hausfrauen, etwa in Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen die Lücken füllen. Von einem »Pädagogischen Volkssturm« war die Rede, wie ein Kultusminister 1963 im SPIEGEL erklärte.

Offiziell wäre ein solcher Aufruf heute wohl undenkbar. Tatsächlich jedoch haben manche Schulen in diesem Schuljahr längst kapituliert, Stunden gekürzt – und notgedrungen auf die Verfügbarkeit von Eltern, faktisch meist Müttern, gesetzt. Kinder werden früher nach Hause oder gar tageweise ins »Homeschooling« geschickt.

Das System ist zudem so auf Kante genäht, dass im schulischen Alltag elterliche, ebenfalls faktisch wieder meist mütterliche Hilfe oft dringend erwünscht – oder erwartet wird; sei es als Begleitung bei Ausflügen, als Küchenhilfe beim Obst schnippeln oder als Unterstützung im Schwimmbad."

 
 
 

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